Feuerversicherung - Gesteigerte Beratungspflichten und Hinweispflichten des Versicherers bei Verwendung der Klausel Neubauwert 1914

Gebäudeversicherer kann sich nicht auf Unterversicherung berufen

Ein häufiger Fall in der Praxis des Fachanwaltes für Versicherungsrecht stellt das Problem der Unterversicherung in der Gebäudeversicherung dar.

Die Fallgestaltungen sind immer ähnlich:

Es kommt zu einem Brand, bei dem das versicherte Gebäude völlig zerstört wird. Der Gebäudeversicherer schaltet einen Sachverständigen ein. Der Sachverständige bewertet den Schaden am Wohnhaus oder dem zerstörten Bürohaus bzw. gewerblich genutzten Gebäude. Der von der Versicherung eingeschaltete Sachverständige für die Bewertung von Gebäudeschäden stellt zunächst in seinem Gutachten fest, welcher Zeitwertschaden vorliegt und welcher Neuwert dem Versicherungsnehmer bei Wiederaufbau des Gebäudes als Ersatz zustehen würde.

Die für die Versicherung besonders wesentliche Feststellung in den Gutachten betrifft jedoch die Überprüfung der Versicherungssumme. Das ist die dem Gebäudeversicherungsvertrag zu Grunde gelegte Summe. Hier kommt es dann für den Versicherungsnehmer zur bösen Überraschung. Der Gutachter stellt fest, dass nach seinem Aufmaß und seiner gutachterlichen Ermittlung die Versicherungssumme auf der Basis Neubauwert 1914 deutlich höher ist als die im Vertrag genannte Versicherungssumme. Dementsprechend bestehe eine Unterversicherung, z. B. von 50 % oder höher. Die konkrete Folge für den Versicherungsnehmer ist, dass der Versicherer seine Entschädigung für den Brandschaden kürzt, genau um die Quote der Unterversicherung. Das gilt sowohl für den Zeitwertschaden als auch für den Neubau.

Für den Versicherungsnehmer bedeutet diese Kürzung der Leistung durch den Versicherer, dass er das Gebäude mit der Entschädigungsleistung in der Regel nicht wieder errichten kann, somit auf den Zeitwertschaden zurückgeworfen wird und diesen auch nur anteilig erhält. Ob Wohngebäude, Büro oder Werkstatt, diese Entscheidung des Versicherers kann die private und geschäftliche Existenz des Versicherungsnehmers vernichten.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs, BGH-Urteil vom 07.12.1988 IVa ZR 193/87:
Der Versicherer muss in geeigneter Form auf die Schwierigkeiten der richtigen Festsetzung des Versicherungswertes bei vereinbarten Versicherungswert 1914 hinweisen.

Bereits unter Geltung des alten Versicherungsvertragsgesetzes (bis 2008) hat der BGH grundlegend in vorstehend genannter Entscheidung darauf hingewiesen, dass den Versicherer nach Treu und Glauben gesteigerte Hinweis- und Beratungspflichten treffen, wenn er Versicherungsbedingungen verwendet, nach denen die Bestimmung des richtigen Versicherungswertes so schwierig ist, dass sie selbst ein Fachmann nur mit Mühe treffen kann.

Wenn der Versicherer die Bestimmung dieses schwierigen Versicherungswertes dem Versicherungsnehmer allein überlässt, muss der Versicherer in geeigneter Form auf die Schwierigkeiten hinweisen. Als geeignete Form sah der Bundesgerichtshof die Empfehlung an, einen Sachverständigen hinzuzuziehen. Der Versicherer muss dem Versicherungsnehmer aber zumindest eine eigene fachkundige Beratung anbieten. Begründet wurde das durch das Gericht damit, dass es in der Praxis für einen bautechnischen Laien nicht möglich ist, den Versicherungswert 1914 zu bestimmen. Zu den ohnehin schwierigen Bewertungen von Bauleistungen komme hinzu, dass örtliche, heute kaum mehr feststellbare Preisunterschiede aus einer lange zurückliegenden Zeit zu berücksichtigen seien und das fortschreitende Bautechnik zu Baumethoden und Baustoffen geführt habe, die mit 1914 nicht zu vergleichen seien. Es sei bereits für einen Sachverständigen schwer, den Wert 2014 richtig zu bestimmen. Wenn aber ein Fachmann schon Schwierigkeiten habe, könne der Versicherer diese schwierige Bewertung nicht dem Versicherungsnehmer überlassen.

Im Ergebnis hatte der BGH es für möglich gehalten, dass dem damaligen Kläger ein Schadensersatzanspruch auf die Höhe der versicherten Leistung wegen der Falschberatung bzw. unterlassenen Beratung zustehen könne. Da die Vorinstanz zu dieser Aufklärungspflichtverletzung eine angebotene Beweisaufnahme nicht durchgeführt hatte, wurde der Rechtsstreit insoweit zurückverwiesen.

Diese Grundsätze sind durch weitere Gerichtsentscheidungen bestätigt worden. Auch der BGH hatte sich weiterhin mit den Hinweispflichten des Versicherers und dem Angebot einer fachkundigen Beratung durch den Versicherer bei Vereinbarung des Versicherungswertes 1914 zu beschäftigen, so BGH, Beschluss vom 03.02.2011 - IV ZR 171/09.

Aktuelle Entscheidung des Landgerichts Berlin vom 24.09.2015 - Geschäftsnummer 23 O 443/14 zum Unterversicherungseinwand

Das Landgericht Berlin hat in einem aktuellen Urteil dem beklagten Versicherer den Unterversicherungseinwand aus § 11 Nr. 4 AFB 87 verwehrt. Es hat dazu ausgeführt, dass der Versicherer sich nicht auf den Unterversicherungseinwand berufen könne, da er den Versicherungsnehmer nicht ausreichend über Risiken und Bedeutung des vereinbarten Versicherungswertes 1914 aufgeklärt habe. Zu Grunde lag ein Neuabschluss eines Gebäudeversicherungsvertrages aus dem Jahre 1996, demnach ebenfalls noch unter Geltung des alten VVG. Das Landgericht hat dem Versicherer seine Hinweispflichten noch einmal ausdrücklich verdeutlicht.

Konkrete Hinweispflicht des Gebäudeversicherers

Der Versicherer muss danach darauf hinweisen, wie schwierig die Festsetzung des richtigen Versicherungswertes 1914 ist, welche Gefahr der Versicherungsnehmer mit einer vorschnellen Bezeichnung des Versicherungswertes läuft und wie der Versicherungsnehmer dieser Gefahr begegnen kann.

Die Aufklärungsbedürftigkeit hat das Gericht insbesondere in der Tatsache gesehen, dass der Versicherungsnehmer das Grundstück gerade erworben hatte und mit dem übernommenen Versicherungswert 1914 des Vorversicherers bei dem neuen Gebäudeversicherer wegen eines Versicherungsangebote vorstellig geworden war. Im Ergebnis musste der Versicherer im Wege des Schadensersatzes die volle Versicherungssumme zahlen. Das Urteil ist rechtskräftig.

Der aktuelle Fall zeigt, dass es in der Beratungspraxis unabdingbar ist, die Rechtsprechung zu kennen und zutreffend anzuwenden. Für den Beratungsfehler trägt grundsätzlich derjenige, der sich darauf beruft, die Darlegungs- und Beweislast. Jedenfalls unter Geltung des VVG ab 2008 dürfte der Versicherer bei nicht dokumentierte Beratung erhebliche Schwierigkeiten bekommen, nachzuweisen, dass er seine Hinweis- und Beratungspflichten erfüllt hat. Aber auch bei so genannten Altfällen genügt der Versicherungsnehmer seiner Darlegungslast, wenn er behauptet, überhaupt nicht über die Bedeutung des Versicherungswertes 1914 beraten worden zu sein. Es ist dann Sache des Versicherers im Rahmen seiner sekundären Darlegungslast, die richtige und zutreffende Beratung zu belegen und gegebenenfalls unter Beweis zu stellen.

Jörg Schulze-Bourcevet
Fachanwalt für Versicherungsrecht